Botschafterin der Engel

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

„Habt ihr es auch schon vernommen?“ ereiferte sich Engel Luzius. „Schon wieder haben wir eine Mitarbeiterin verloren. Wenn das so weiter geht, haben wir Himmlischen an Weihnachten bald nichts mehr auf der Erde verloren. Dabei reden die Menschen im Dezember dauernd von Engeln und Himmel und Heiliger Zeit. Aber wahrscheinlich denken die meisten sowieso, dass wir im Grunde genommen nur Phantasiewesen sind und Weihnachten ein altmodisches Fest. Wenn sie nur nicht so blind wären!“

Erzengelin Wilma seufzte. In den letzten Jahren war es tatsächlich immer schwieriger geworden, Botschaften unter die Menschen zu bringen. Viele der treuen Seelen, die eng mit der geistigen Welt verbunden gewesen waren und auf unterschiedlichem Weg ihre Mitmenschen belehrt hatten, wollten von einer Zusammenarbeit nichts mehr wissen. Diverse Probleme – seien diese gesundheitlicher Natur, in ihren Beziehungen, im Beruf oder anderes – hatten viele überfordert und leider zu falschen Entscheidungen geführt: sie reduzierten den Kontakt zur geistigen Welt, der ihnen Ideen und Kraft hätte geben können, die Krise zu überwinden. So manövrierten sie sich selbst in immer grösseres Elend und beraubten die Welt zudem einer wertvollen Quelle der Inspiration. Dabei war Letzteres nötiger denn je. Deshalb war Wilma nicht gewillt, so schnell aufzugeben. „Wer hat sich abgesetzt?“ wollte sie von Luzius wissen.

„Die kleine Therapeutin, die immer Weihnachtsgeschichten schrieb. Sie fand, es gäbe nun genug davon und sie lasse sich jetzt teilpensionieren.“

Empört schnaubte Wilma: „Wie kann sie nur! Die Geschichten flossen ihr ja wie von selbst aus den Fingern und die Leute liebten sie. Mag sein, dass ihre Gesundheit im Moment nicht die Beste ist. Aber deshalb gleich ihre geflügelten Freunde im Stich zu lassen, ist nicht fair. Ich glaube, ich muss mich bei ihr einschalten und einige Dinge klarstellen.“

Was sie genau unternehmen wollte, verriet Wilma nicht, doch die leichte Verfärbung ihres Heiligen Lichtes in Richtung rötlich zeigte, dass sie etwas erregt war.

Luzius sah ihr bekümmert nach. Er wusste, dass sich Wilma grosse Sorgen um die Erde machte. Zudem war ihm die enge Beziehung, die seine Vorgesetzte mit einzelnen menschlichen Botschaftern pflegte, bekannt. Manchmal wirkte ihr Licht getrübt, weil sie versucht hatte, einen ihrer Zöglinge zur Vernunft zu bringen. Er wusste, dass man mit seinen Energien nicht ungestraft über längere Zeit so verschwenderisch umgehen durfte. Wilma musste aufpassen, dass sie nicht zu viel von ihrer Strahlkraft verlor.

Inzwischen war es auf der Erde herbstlich geworden. Die Hitze des Sommers war vorbei. Die Tage wurden kürzer und die Nächte teilweise recht kühl. Nach den grossen Ferien begann für viele ein neuer Abschnitt. Für andere setzte sich einfach der alte Trott fort. Einige träumten bereits vom nächsten Urlaub im Oktober. Anschliessend würde das Jahr mit grossen Schritten zu Ende gehen.

Mitten in all dem irdischen Treiben entdeckte Wilma die kleine Therapeutin. Frustriert und müde nippte sie an ihrem Kaffee und hatte nur noch einen Wunsch: Ruhe und schlafen. Die letzten Wochen und Monate hatten sie zu viel Energie gekostet. Irgendwie hatte sie es nicht geschafft, sich immer wieder ausreichend zu regenerieren. Jetzt hockte sie buchstäblich in einem Loch. Sie hatte ihr gesamtes Programm gestrafft und machte nur noch das Notwendigste. Trotzdem wurde es nicht besser, sondern eher schlimmer. Deshalb hatte sie selbst eine ihrer langjährigen Traditionen über Bord zu geworfen. Schliesslich musste man auch einmal den Mut haben, alte Zöpfe abzuschneiden. Bereits seit vielen Jahren schrieb sie nämlich für jede Weihnacht eine Geschichte, die sie mit viel Freude verschenkte. Die Leute liebten diesen Brauch und betraten die Praxis im Dezember jeweils erwartungsfroh. So unterschiedlich die Geschichten in der Regel waren, immer enthielten sie einen tieferen Sinn und liessen einen über manches nachdenken. Also waren die Klienten stets gespannt, was ihrer Therapeutin eingefallen war. Doch diesmal fehlten der Autorin schlicht die nötige Lust und Kreativität.

Wilma beobachtete die Frau besorgt und überlegte, was sie tun könnte. Das war wieder einmal ein typischer Fall. Zu der Zeit, als das Leben sehr viel von ihrer Seelenfreundin abverlangt hatte, wurde all den irdischen Belangen im Alltag zu viel Raum gegeben. Nur noch die Arbeit zählte. Der geistige Aspekt blieb auf der Strecke. Meditation, das Studium spiritueller Schriften und Rituale kamen zu kurz. So trocknete der kreative und visionäre Teil der Therapeutin aus, der Kontakt zur geistigen Ebene wurde immer schlechter. Dieser war aber dafür verantwortlich, dass die Frau mit neuen und belebenden Energien versorgt wurde. Je mehr er fehlte, umso mehr vernachlässigte ihre Freundin alle Tätigkeiten, die schlussendlich wieder Energie gebracht hätten. Ein perfekter Teufelskreis. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Lichtarbeitern hatte sich dieses Menschenkind glücklicherweise während vieler Jahre eine gesunde Grundlage erarbeitet. Somit war es trotz seiner Krise für Wilma gut zugänglich. Das genügte, dass die Erzengelin leichtes Spiel haben würde und ihr Plan, den sie bereits im Kopf hatte, leicht umsetzbar wäre.

Und tatsächlich: man musste zweimal hinschauen, um sicher zu sein, dass man keiner Täuschung erlag – aber eine Woche später sass die kleine Therapeutin effektiv vor ihrem Computer. Sie sah nicht nur vitaler aus, sondern unter ihren Fingern entstand Zeile für Zeile eine Geschichte. Ja, hier entwickelte sich wahrhaftig die gewünschte Weihnachtsgeschichte. Die Szene im Raum wirkte völlig entspannt, so dass einem vom reinen Zuschauen warm ums Herz wurde. Nichts erinnerte mehr an das Dunkle und Schwere, das die Frau monatelang ausgestrahlt hatte. Wie war ein solcher Wandel in so kurzer Zeit möglich? Was war passiert?

Einmal, an einem frühen Morgen, war die Therapeutin aufgewacht und hatte gesehen, dass die Zeit reichte, noch ein bisschen zu dösen. Dabei musste sie erneut eingeschlafen sein, denn plötzlich erschien glasklar eine Gestalt. Die Therapeutin erkannte einen Engel, der ihr irgendwie vertraut vorkam. Durch die Augen des himmlischen Wesens floss eine selige Liebe, welche die Therapeutin vollständig durchströmte. Gleichzeitig vernahm sie die Nachricht: „Du bist eine Botschafterin. Schreibe!“

Im selben Moment wusste die Frau, dass es um die Weihnachtsgeschichte ging. Ebenso war ihr klar, dass diese ihr zufliessen würde. Sie musste sich lediglich an den Tisch setzen und schreiben.

Völlig perplex wachte die Therapeutin auf. Dieser Traum war so eindeutig gewesen, dass keine Fragen offen blieben. Sie wusste wieder, was sie zu tun hatte, was ihre Aufgabe hier auf Erden war. Bevor sie den Gedanken richtig zu Ende denken konnte, spürte sie plötzlich eine Woge von Energie, die ihr beinahe den Atem verschlug. Im ganzen Körper begann es zu kribbeln und dann – o Wunder – war es wieder da, dieses unglaubliche Gefühl der tiefen Verbundenheit mit der geistigen Welt. Wie sehr hatte sie es vermisst! Voller Dankbarkeit gab sie sich dem seligen Augenblick hin und genoss ihn, denn diese Energie vermittelte ihr ein Gefühl von einer tiefen Geborgenheit in einem vertrauten Zuhause. Wie hatte sie nur den Kontakt zu diesem Ort verlieren können, der ihr so viel bedeutete.

Ja, was war eigentlich geschehen? Vor ungefähr einem Jahr sorgten verschiedene Umstände dafür, dass ihr die zu lösenden Probleme über den Kopf zu wachsen drohten. Zudem erstickten sie die anfallenden Arbeiten beinahe. Obschon sie es irgendwie schaffte, alles zu bewältigen, beherrschte sie ständig das Gefühl, das Leben überwalze sie. In der Folge schien sich ein innerer Automatismus einzuschalten, sozusagen ein Notprogramm. Dieses sicherte ihr zwar das Über-Leben, bot ihr aber keine Gelegenheit, wieder in einen kreativen Lebens-Modus zurückzufinden. Sie klebte buchstäblich in einer permanenten Erschöpfung und Depression fest.

Und jetzt gab es diese unerwartete Wende. Schlagartig wurde der Therapeutin bewusst, wie wundervoll es ist, wenn man Freunde hat. Ihr war aber nie so richtig klar gewesen, dass sie sich neben dem irdischen Beziehungsnetz auch noch ein ganz anders aufgebaut hatte, ein wahrhaft himmlisches. Seit vielen Jahren pflegte sie nämlich einen regen Austausch mit der geistigen Welt. Vor ihrer Krise hatte sie stets in sich hineingehorcht, ob ihr Hinweise oder Ideen aus dieser Dimension zugespielt wurden. Den Engel aus dem Traum kannte sie, dessen war sie sich sicher. Es war ihr nur nicht bewusst, woher genau und welcher Art die Beziehung war. Die Bindung fühlte sich aber tief und stark an. Eine einzige Begegnung mit diesem himmlischen Wesen im Traum ermöglichte es jetzt, ihr die nötige Energie zu schenken, um wieder auf die Beine zu kommen. Es war kaum zu glauben: innerhalb weniger Minuten wurde ihr Leben einfach wieder eingerenkt. Welch ein unglaublicher Segen!

Ja, Freunde sind wirklich eine wertvolle Sache. Geflügelte Freunde sind jedoch von unschätzbarem Wert. Dessen war sich die Therapeutin bewusst und es lag ihr auch sehr am Herzen, diese Freundschaften zu pflegen. Es galt also, das Leben wieder voll und ganz in die Hände zu nehmen. Dazu gehörte der regelmässige Kontakt mit der geistigen Welt, auch wenn dies Zeit und Energie kostete. Da es offensichtlich ihre Aufgabe war, Botschafterin zu sein, musste es entsprechende Wege geben. Ihre geflügelten Begleiter würden ihr bestimmt helfen und ihr zu gegebener Zeit die richtigen Ideen schicken, dessen war sie sich sicher.

Während die Therapeutin sinnierte, war Wilma ganz nahe bei ihr. Sie strahlte vor Freude und wusste: diese Schlacht hatte sie gewonnen. Und nicht nur das: ihre Freundin hatte einiges begriffen und war nun reif für anspruchsvollere Aufgaben. Lächelnd schickte ihr die Erzengelin entsprechende Visionen. Bald würden sie im Geist der Therapeutin aufleuchten und ihr das Material für weitere Projekte liefern. Zufrieden trat Wilma den Rückzug an. Ja, an Weihnachten würde es wieder eine Weihnachtsgeschichte geben. Aber – wie gesagt – das war nur der Anfang. An weiteren Plänen mangelte es dem himmlischen Wesen wahrlich nicht.

Aus tiefster Erleichterung heraus ergossen sich zwei Seufzer ins Universum: ein himmlischer und ein irdischer. Dort trafen sie sich und erzeugten ein kleines Licht, das nun am Himmel strahlt. Unablässig erinnert es uns daran, dass die Zusammenarbeit zwischen Himmel und Erde das grösste Glück für beide Seiten bedeutet.