Das Fünfrappenstück

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Gequält stöhnte das Metallplättchen vor sich hin. Ein letzter schmerzhafter Druck, dann wurde es in eine grosse Wanne gespickt, in der schon Unmengen von Seinesgleichen lagen. Bevor es sich umsehen konnte, musste sich das Plättchen allerdings etwas von seinem Stress erholen. Dann schaute es sich seine Umgebung genauer an. Oh, wie hübsch all die runden Dinger um es herum waren. Alle trugen sie Muster und eine Zahl aufgeprägt. Ob es wohl auch so aussah? Das Plättchen neben ihm, das seine Gedanken erfasste, sagte lachend: „Ja ja, auch du gehörst unverkennbar zu uns. Schau, wir sind alle Fünfrappenstücke, und dafür müssen wir genau gleich aussehen, so dass man uns einwandfrei erkennen kann.“

Der neu geborene Fünfräppler staunte. Plötzlich erfasste ihn eine tiefe Erregung. Was bedeutete es, ein Fünfrappenstück zu sein? Was würde ihn als nächstes erwarten?

Kaum hatte er die Frage zu Ende gedacht, kam Bewegung in die Menge. Es schien, als würden die Stücke unter ihm abgesogen und er rutschte immer tiefer. Dann –  schwupps  – wurde er von einem Sog erfasst und bald fand er sich mit vielen anderen Fünfräpplern schön aneinandergereiht in einer Papierrolle. Nun sah er zwar nicht mehr viel, spürte aber, wie die Rolle ab und zu aufgehoben und wieder abgelegt wurde. Dann schlief er müde ob all der neuen Eindrücken ein.

Lange Zeit geschah nicht viel, weshalb das Fünfrappenstück meistens vor sich hindöste. Doch plötzlich wurde die Rolle mehrmals aufgehoben und an neuen Orten wieder abgelegt. Und dann schien das Leben so richtig anzufangen: Zuerst vernahm der Fünfräppler viel Lärm, dann wurde das Papier von der Rolle abgerissen und er fiel mit den anderen Stücken in eine Schale. Dort lagen schon ältere Exemplare seiner Gattung. Neugierig schaute sich der Fünfräppler um.

„Oh, hallo“, wurden die Neuankömmlinge von einem sehr abgewetzt erscheinenden Stück begrüsst. „Ihr seht aber neu aus! Frisch ab Presse wohl.“

Neugierig schaute der Fünfräppler das alte Exemplar an. „Sag mal“, frage er, „was ist denn das, das Leben?“

Rundherum brachen die runden Metallstücke in Gelächter aus und ein wildes Stimmendurcheinander setzte ein. Da gab es die hohen Stimmen der Fünfrappenstücke, aber auch verschiedene tiefere. Erst später erkannte der Neuling, dass diese von grösseren Metallplättchen herkamen.

Als es wieder ruhiger geworden war, erklärte der alte Fünfräppler geduldig: „Die Menschen nennen uns Geld. Wir alle haben einen bestimmten Wert, für den sie Waren oder Dienstleistungen kaufen können. Wie du noch erfahren wirst, sind wir Fünfräppler die Kleinsten und haben am wenigsten Wert. Wir werden leider nicht sehr geschätzt. Es gibt auch noch Geld aus Papier, das ist je nach Sorte viel wertvoller. Dafür sind wir aber ganz besonders, denn wir sind die Einzigen, die goldig aussehen. Lass dich also nicht unterkriegen, auch wenn du viel Achtlosigkeit ertragen musst.“

Der Fünfräppler staunte. Er verstand nicht alles, aber immerhin tönte es spannend. Bevor er noch eine Frage stellen konnte, wurde es hell, eine Hand packte ihn und legte ihn in eine andere Hand. Diese liess ihn in einen weichen Beutel fallen, wo er zum ersten Mal in seinem Leben anderen Münzen begegnete. Eifrig wurde geschwatzt und Erlebnisse wurden ausgetauscht. Ganz stolz erkannte der Fünfräppler, dass er am meisten glänzte und als einziger goldig leuchtete. Seine Freude währte jedoch nicht lang. „Sieh da“, höhnte ein fettes Fünffrankenstück, „ein Fünferchen! Und erst noch frisch ab Presse! He du, weißt du eigentlich, dass du nur ein Ärgernis für alle bist? Du brauchst Platz, bist aber sozusagen wertlos. Ich würde mich an deiner Stelle schämen.“

Alle lachten, besonders laut die anderen kleinen Münzen, die froh waren, nun nicht mehr die kleinsten im Portemonnaie zu sein. So erging es dem armen Fünfräppler ständig, wohin er auch kam. Langsam verlor er an Glanz und gewöhnte sich daran, immer wieder in eine neue Umgebung zu kommen und dabei abschätzig behandelt zu werden. So hatte er sich das Leben nicht vorgestellt. Er wurde sehr traurig.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Eines Tages wurde das Fünfrappenstück mit vielen anderen Münzen in eine Maschine geleert. Dort wurden sie alle herumgewirbelt und schliesslich nach Sorten getrennt. Jemand ergriff die Fünfräppler und fragte eine andere Person: „Packen wir die überhaupt noch in Rollen oder werden sie verschrottet?“ Entsetzt lauschte unsere goldige Münze und erfuhr dann nach und nach, dass sie bald gar keinen Wert mehr haben würde. Die Menschen wollten die lästigen kleinen Dinger abschaffen. Erleichtert konnte sie aber feststellen, dass sie mit ihren Leidensgenossen doch noch in eine Papierrolle gepackt wurde. Es würde also weitergehen. Aber jetzt wussten es bald alle: das Fünfrappenstück war in Kürze wertlos, ganz und gar ohne jeglichen Nutzen. Betrübt verfolgte es sein weiteres Leben und wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis es verschrottet wurde. Es war sehr traurig, ohne viel Wert geboren worden zu sein und mit noch viel weniger Wert seine Identität wieder aufgeben zu müssen. Es schien ihm, als habe es ein Leben gehabt, das nicht besonders lebenswert gewesen sei.

Doch dann kam alles ganz anders. Eines Tages wurde es aus einem Portemonnaie geklaubt und zu anderen Fünfrappenstücken in ein Glas gelegt. „Schau“, hörte es die helle Stimme eines Kindes sagen, „schau Mutti, schon so viele Glücksfünferchen habe ich gesammelt. Jetzt habe ich bald genug, um an Weihnachten ganz viel Glück zu verschenken.“

Verwundert schaute sich der Fünfräppler um. Das Glas, in dem er sich befand, stand auf einem Büchergestell. Von hier aus hatte er einen guten Überblick über das Zimmer, das offensichtlich zu einem kleinen Knaben gehörte. Überall lag Bastelmaterial herum, denn der Bub hatte viele Leute, die er an Weihnachten beschenken wollte.

Und langsam wurde der Münze klar, worum es ging: da die Fünfräppler abgeschafft wurden, gab es immer weniger von ihnen und so bekamen sie plötzlich einen neuen Wert. Man konnte mit ihnen zwar nicht mehr einkaufen, aber sie dienten vielen Menschen als kleine Glücksbringer. Die Menschen freuten sich, wenn sie ein goldiges Fünferchen in den Händen hielten und liessen ihm jeweils ganz besondere Ehrenplätze zukommen. Das Verrückteste an der Geschichte war, dass sich eigentlich gar nichts verändert hatte, ausser dass ihm die Menschen plötzlich eine andere Bedeutung zusprachen.

Als unser Fünfrappenstück schliesslich als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum lag, merkte es, dass es offensichtlich viele Dinge gab, denen die Menschen besondere Bedeutung zuschrieben und die deshalb wertvoll waren. So schien der bunt geschmückte Tannenbaum mehr als ein gewöhnlicher Baum zu sein, ebenfalls die Krippenfiguren, die neben dem Baum angeordnet waren. Besonders die kleinste von ihnen schien unermesslich wichtig. Sie war winzig und lag in einer Krippe. Offensichtlich muss man nicht gross sein, um als wichtig zu gelten, sinnierte das Fünfrappenstück.

Es schien, als gäbe es Werte, die der Fünfräppler erst noch entdecken musste. Mit zwei von ihnen machte er auch gleich Bekanntschaft: als der kleine Bub den Fünfräppler seiner Mutter in einem reich verzierten Döslein als Geschenk überreichte, erlebte er etwas ganz Neues: er löste durch sein Dasein eine Welle von Liebe und Freude aus. Ihm schien, als werde es dadurch rund um ihn heller. Er spürte, dass diese Werte sehr viel wichtiger waren als der Wert, den er als Geldstück gehabt hatte. Damals war er von Gefühlen der Gier und Bereicherung umgeben gewesen, die ihn zu einem Nichts verkommen liessen. Doch jetzt war es egal, welchen materiellen Wert er als Fünfräppler hatte. Dies war eine ganz andere Welt, eine Welt, in der man sich einfach besser fühlte, weil man den anderen etwas bedeutete, das jenseits des Materiellen war. Glücklich seufzte der Fünfräppler und blinzelte dem kleinen Figürchen in der Krippe zu: wir sind zwar beide klein und sehen nicht besonders bedeutungsvoll aus, aber offensichtlich lösen wir in den Menschen viel Licht aus. Ist das nicht wunderbar? Und ein tiefer Frieden breitete sich in der Seele des kleinen goldigen Plättchens aus und liess einen wundersamen Strahlenkranz darum herum entstehen. Dieser sorgte dafür, dass die Menschenaugen noch mehr in Liebe und Freude zu leuchten begannen. Endlich machte das Leben einen Sinn!

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.