Die leuchtenden Runzeln

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Die Musik dröhnte durch den Raum und gab mit ihrem Bass einen klaren Rhythmus vor. Überall mühten sich zumeist recht gut gebaute Leute ab, dehnten ihre Muskeln, liessen diese an den Maschinen hart arbeiten und schwitzten vor sich hin. Es war ein friedlicher Tag, wie dies hier meistens der Fall war. Tessi liebte ihre Arbeit. Sie war als Instruktorin angestellt und half gerne den Menschen, ein angepasstes Trainingsprogramm durchzuführen. Irgendwie hatte sie es im Blut, dass sie bei den meisten auf den ersten Blick sah, wo ihre körperlichen Schwachstellen waren. Sie wusste dann in der Regel auch eine Lösung dafür, die an die Verhältnisse des Einzelnen angepasst war, so dass sich niemand überlastete. Letzteres war sehr wichtig, denn sie hatte es zumeist mit Menschen zu tun, die ehrgeizig waren und viel investierten, um ihren Körper perfekt zu formen und ihn mit Bewegung und entsprechender Ernährung fit und muskulös zu erhalten. In dieser Szene war Tessi die richtige Frau, denn ihr war es selbst ein Anliegen, gut auszusehen und mit richtigem Essen und ausgewählter Kleidung ihre Körperproportionen zur Geltung zu bringen. Das machte sie sicher und gab ihr ein gutes Lebensgefühl.

Heute hatte sie den Kopf allerdings nicht ganz bei der Sache und war froh, dass keine neuen Leute da waren, die sie intensiver betreuen musste. Eben erst hatte sie eine Anfrage von einem Altersheim bekommen, dort einen Fitnessraum aufzubauen und mit den Insassen dieses Heimes sowie auswärtigen alten Menschen Programme zu entwerfen. Dass ausgerechnet sie angefragt wurde, ehrte sie. Sie wusste auch, wie dies zustande gekommen war: durch einen Freund, der entsprechende Kontakte hatte. Zudem tönte die Sache wirklich sehr verlockend: sie würde völlig freie Hand haben. Einzig das Budget und der Raum würden ihr Grenzen setzen. Die Wahl der Geräte sowie viele andere Dinge konnte sie selbst bestimmen. Sie müsste dann allerdings ihre bisherige Arbeit künden, weil sie mit dem neuen Job voll ausgelastet wäre. Das reute sie ein bisschen, denn hier fühlte sie sich wohl. Um sich über das Ganze ein Bild zu machen, war sie zu einem Gespräch eingeladen. Sie musste sich nur noch entscheiden, ob sie die Sache wirklich näher betrachten sollte. Eigentlich sprach nichts dagegen, sie konnte einfach mal unverbindlich vorbeigehen. Also nahm sie sich vor, noch am selben Abend einen Termin zu vereinbaren. Als ihr das klar geworden war, wurde sie innerlich ruhiger und konnte sich wieder mehr dem Treiben in der Halle zuwenden.

Zwei Tage später sass Tessi dem Leiter des Altersheims gegenüber. Eben hatte sie mit ihm einen Rundgang durch die ganze Institution gemacht und den Raum besichtigt, der für das Training vorgesehen war. Dieser wirkte hell und die grossen Fenster erlaubten einen tollen Ausblick in die Natur. Schöner konnte man es sich kaum wünschen. Das Budget war recht grosszügig. Da liesse sich also einiges machen. Natürlich war sie auch einigen Insassen begegnet. Teilweise wohnten sie noch selbständig in Alterswohnungen, teilweise mit mehr Betreuung in Studios. Während die einen noch sehr rüstig wirkten, sah man anderen an, dass sie nicht mehr ganz selbständig leben konnten. Die meisten wirkten aufgestellt und teilweise sogar fröhlich.

Je länger Tessi aber hier sass, umso mehr beschlichen sie plötzlich Zweifel. Was sollte das Ganze eigentlich? Sie war es gewohnt, Menschen zu helfen, ihren Körper mit gezieltem Training so aufzubauen, dass sie eine sehr erfreuliche Erscheinung darstellten. Aber hier? Alles mehr oder weniger runzlige Gestalten mit mehr oder weniger hängendem Gewebe, die Beweglichkeit teilweise arg eingeschränkt. Was sollte sie mit diesen Leuten anfangen? Wozu sollte es gut sein, einen Körper zu trimmen, bei dem schon so vieles im Argen lag und wo kaum mehr taugliche Ergebnisse erzielt werden konnten?

Als könnte der Heimleiter ihre Zweifel sehen, begann er, von Studien zu erzählen. Man hatte nämlich herausgefunden, dass durch ein solches Training die alten Leute länger selbständig blieben, geistig reger und psychisch stabiler waren sowie weniger Schmerzen hatten. Tessi musste sich eingestehen, dass sie an solche Dinge gar nicht gedacht hatte. Irgendwie hatte sie einfach alles rund um das Thema Altersheim verdrängt, das sah sie nun deutlich. Eigentlich hatte sie es ja von Anfang an gewusst, dass sie mit Senioren zu tun haben würde, die nicht mehr einen Traumbody erarbeiten konnten. Aber die Idee, selber etwas aufbauen zu können, hatte sie dermassen in Beschlag genommen, dass sie alles andere ausgeblendet hatte. Nun wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie davon auch gar nichts hatte wissen wollen, weil es ihr nämlich ein grosses Unbehagen machte. Jetzt jedoch, wo sie da sass, kam sie nicht mehr darum herum, sich dieser Beklommenheit zu stellen. Ihr wurde klar, dass sie sich noch nie wirklich überlegt hatte, dass ihr Körper vielleicht auch einmal nicht mehr so knackig sein würde, und das machte ihr Angst. Sie wurde sehr still, hörte einfach nur noch höflich zu, bis sie der Leiter schliesslich verabschiedete und sie bat, sich die Sache noch einmal gründlich zu überlegen und ihm dann Bescheid zu geben.

Auf dem Heimweg wirbelte ihr eine Menge durch den Kopf. Sie konnte kaum einen vernünftigen Gedanken fassen. Erst zu Hause vermochte sie sich bei einer Tasse Tee zu beruhigen. Ja, da stand sie nun plötzlich vor der Tatsache, dass auch sie älter wurde und einmal runzlig war.

Eines musste man Tessi lassen: obschon sie in gewisser Hinsicht oberflächlich war, ging sie Problemen nie aus dem Weg, sondern suchte nach Möglichkeiten, sie zu lösen. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, was Altern bedeutete und setzte sich deshalb bereits am nächsten Tag in die Kaffeestube des Altersheims. Da beobachtete sie bei einem heissen Gewürztee das Treiben rund um sie. Entgegen ihrer Vorstellung traf sie kaum auf verbitterte griesgrämige Menschen, sondern es herrschten eine gewisse Heiterkeit und ein fröhliches Geschnatter. Sicher gab es auch vergrämte Leute, aber die gab es überall. Plötzlich ganz unvermittelt erschien in Tessis Kopf ein Bild, das sie schon fast vergessen hatte: eine runzlige alte Frau mit einem wundersam lieben Gesicht sass auf einem Korbstuhl und verbreitete eine emotionale Wärme, welche der damals kleinen Tessi ein tiefes Gefühl der Geborgenheit vermittelte. Sie erinnerte sich nicht mehr so gut an ihre Grossmutter, aber alle ihre Bilder von ihr beinhalteten dieses Strahlen, das dem Gesicht und vor allem den Augen dieser Frau entströmte.

Tessi konnte sich erinnern: es war, als würde irgend eine Energie in diesem Körper hausen, die durch die Haut und die Augen nach aussen drang, eine Energie, die Tessi nicht richtig zu fassen vermochte. Und jetzt konnte sie es wieder sehen: einige Menschen schienen genau diese Energie zu haben. Viele machten jedoch einen stumpfen Eindruck. Diejenigen, welche die lebendige Energie ausstrahlten, begannen sogar in einer gewissen Weise schön zu wirken. Erstaunt über diesen Blickwechsel schaute sich Tessi die Menschen um sich herum sehr intensiv an. Wie hatte sie dies nur vergessen können?

Plötzlich war ihr unerklärlich, wie sie in ihrer Jugend auf die Idee hatte kommen können, dass der Körper die Persönlichkeit bildete. Hier sah sie etwas anderes, und bei ihrer Grossmutter hatte sie dieses Andere sehr intensiv erfahren. In der Pubertät tauchte dann der Wunsch auf, jemand zu sein. Und da ihr Körper wohl proportioniert und ihr Erscheinungsbild äusserst gefällig waren, nutzte sie diesen Umstand und baute ihr Gut gezielt aus. Damit kam sie in der Gesellschaft an und genoss entsprechende Vorteile. Dieser Umgang mit sich und dem Leben führte schliesslich auch zu ihrer Berufswahl, womit gegenwärtig ihr ganzes Streben auf die Perfektion der Körperlichkeit zielte. Jetzt sass sie da und musste erkennen, dass es etwas gab, das den runzligsten Körper plötzlich liebenswert machte. Natürlich hatte sie in der Religion gelernt, dass es eine Seele gab und diese den Körper belebte, aber das hatte sie nicht so sehr interessiert. Nun schien es ihr, als erkenne sie das Ding, das man Seele nannte, in diesen alten, verbrauchten Körpern. Nachdenklich stand Tessi auf und lief nach Hause. Draussen hatte es zu schneien begonnen. Die Kälte wirkte beruhigend auf ihr überhitztes Gemüt, so dass sie innerlich langsam ruhiger wurde.

Nachdem sie zu Hause angekommen und sich etwas Kleines gekocht hatte, wurde es Tessi immer klarer: sie wollte diese Stelle haben. Sie wollte sehen und erfahren, wie die Seele in diesen Körpern wirkte. Obschon diese zwar schon runzlig und teilweise schlaff erschienen, waren sie offensichtlich noch immer in der Lage, dieses Lebendige zu beherbergen. Tessi wollte wissen, was es mit dieser Energie auf sich hatte, wollte ihre eigene kennenlernen. Sie mochte nicht mehr eine inhaltslose Hülle sein. Jetzt galt es zu entdecken, wo das Leben wirklich herkam. Ja, woher kam es eigentlich? War dieses Licht wirklich das, was man Seele nannte? Wenn ja: warum strahlten einige Leute mehr davon aus als andere? Was machten sie anders? Was musste sie folglich tun, wenn sie viel davon haben wollte? Sie erinnerte sich einfach, dass ihre Grossmutter sehr viel von diesem Licht ausgestrahlt und klein Tessi das als uneingeschränkte Liebe wahrgenommen hatte. War diese Erfahrung etwa ein Schlüssel für all diese Fragen?

Bei diesem Gedanken traf sie unvermittelt das Licht des Weihnachtssterns, den sie in ihrem Fenster aufgehängt hatte und der via Schaltuhr eben gerade eingeschaltet worden war. Ob er ihr wohl etwas sagen wollte?

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.