Die Spitzbuben

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Genüsslich streckte sich Julia auf dem Sofa aus. Endlich hatte sie Zeit für ihre Lieblingsbeschäftigung in der Vorweihnachtszeit. Langsam blätterte sie in ihrem Kochbuch und studierte die Rezepte des Weihnachtsgebäcks: Brunsli, Zimtsterne, Mailänderli, Spitzbuben – mmh, Spitzbuben! Ja, das war’s, Spitzbuben wollte sie backen. Das war nur möglich, wenn sie genügend Zeit hatte, und dieses Jahr hatte sie diese Zeit. Dafür gab es mehrere Gründe.

Julia sinnierte: Ja, es war ein hartes, ereignisreiches Jahr gewesen: Zuerst ging ihre langjährige Beziehung mit ihrem Freund in die Brüche, dann wurde ihre Stelle wegrationalisiert und schliesslich musste sie aus der zu gross gewordenen Wohnung ausziehen, weil sie zu teuer für sie alleine war. Als wäre das nicht genug, war vor zwei Monaten nach langer schwerer Krankheit ihre Mutter gestorben.

Julias Augen füllten sich einmal mehr mit Tränen. Wenn sie es genau nahm, fühlte sie sich gar nicht gut. Sie versuchte zwar immer, all das Belastende zu verdrängen, aber das funktionierte leider nur für kurze Zeit. Dann legten sich wieder die grauen Schatten um ihre Seele und liessen sie am Sinn ihres Lebens zweifeln.

Julia schluchzte laut auf. Nein, jetzt war genug geheult. Sie schnäuzte sich kräftig die Nase, putzte die Tränen ab und schaute grimmig ins Rezeptbuch: 250 gr. Butter, 150 gr. Zucker, eigentlich hatte sie ja Glück im Unglück. Nach langer Suche hatte sie nun wenigstens eine befristete Anstellung bekommen, die sich möglicherweise sogar in eine feste umwandeln liess. Auch die neue Wohnung entsprach ihren Bedürfnissen. Aber eben: sie war hier alleine.

Schluss jetzt, sagte sich Julia energisch und holte sich erneut aus ihren kreisenden Gedanken heraus. Brauchte sie Eier? Nur ein Eiweiss, zudem eine Prise Salz und Mehl. Dann musste sie noch Konfitüre zum Füllen und Puderzucker zum Bestäuben haben, alles Dinge, die sie auf Vorrat hatte. Also konnte es eigentlich losgehen.

Julia gab sich einen Schubs, erhob sich und begann, den Teig herzustellen. Das Abwägen, Mischen und Zusammenfügen der Zutaten machte sie wieder ruhiger. Mmh, der Teig schmeckte! Während er ruhte, bereitete sie alle weiteren Schritte vor. Dann wurde ausgewallt, ausgestochen, gebacken, bestäubt, Konfitüre aufgetragen und zusammengesetzt. Welch ein Duft, welch wunderbare Plätzchen! Manche rund, manche sternoder herzförmig, aber alle herrlich verlockend. Das würde schöne Geschenke geben!

Mit einem tiefen, wohligen Seufzer versorgte Julia die letzten Gegenstände, putzte klebrige Zuckerspuren weg und betrachtete noch einmal zufrieden ihr Werk. Die Spitzbuben mussten noch bis morgen auf dem Gitter trocknen, dann konnte sie Julia in Dosen schichten. Aber jetzt wollte sie ins Bett gehen, denn es war eine anstrengende Woche gewesen. Morgen, am Sonntag, wollte sie dann die Spitzbuben und die bereits gekauften Weihnachtsgeschenke kunstvoll einpacken und mit selbst entworfenen Karten versehen.

Kaum lag Julia im Bett, schlief sie schon ein, denn sie war sehr müde. Sie musste bereits eine Weile geschlafen haben, als sie durch etwas geweckt wurde. Merkwürdig! Was war nur los? Sie verspürte ein rasendes Herzklopfen. Am besten stand sie wohl auf und machte sich rasch einen Tee. Das würde sie wieder beruhigen.

In der Küche wurde Julia vom herrlichen Duft der Spitzbuben empfangen. Na ja, so ein kleineres Exemplar wäre jetzt gerade das Richtige. Oder vielleicht mehrere? Zwar tröstete sie sich in letzter Zeit etwas oft mit Süssigkeiten über ihre Verluste hinweg, aber das war ihr jetzt egal. Im Moment hatte sie einfach Lust auf die mürben, herrlichen Teigwerke und fand, dass diese eh nur einem einzigen Zweck dienten, nämlich im Magen zu verschwinden. Und ob dies gleich jetzt oder später geschah, spielte keine Rolle. Verschenken konnte sie ja dann irgendetwas anderes.

So zündete sie rasch das Licht an und blickte auf die Gitter. Doch welch ein Schreck: sie waren leer. Wo ums Himmels Willen waren die süssen Köstlichkeiten? Noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hörte sie viele feine Stimmchen: „Hier, hier.“ Sie schaute sich um. Tatsächlich, überall auf Abstellflächen wie dem Gewürzgestell, der Vorhangleiste, auf den Kanten der Küchenschranktüren und den Bilderrahmen standen ihre Spitzbuben und schienen auf sie herab zu blicken. Träumte sie? Sie kniff sich in den Arm. Nein, es musste Wirklichkeit sein, denn sie spürte den Schmerz. Verwirrt betrachtete sie das Spektakel. Schliesslich fragte sie in den Raum: „Was macht ihr da oben? Weshalb liegt ihr nicht auf dem Gitter?“

Einer der Sterne, der besonders gut geraten war, neigte sich noch etwas tiefer und es schien Julia, als blicke er sie sehr ernst an. „Julia“, sprach er, „hör mir gut zu! Du selbst hast uns Form gegeben und voller freundlicher Gedanken zum Trocknen hingelegt. Die Vorfreude, andere Personen mit einem kleinen Geschenk beglücken zu können, liess deine Augen leuchten und erfüllte dich zutiefst. Und jetzt? In stumpfer und plumper Gier hast du nur den einen Gedanken: deine Lust zu befriedigen. Wo sind deine schönen Gedanken? Sie würden dir helfen, deinen Schmerz zu überwinden, ohne dass du ihn mit Süssem ersticken müsstest.“

Sprachlos starrte Julia zum Stern. Als wollten die anderen Spitzbuben dessen Aussagen bekräftigen, bewegten sie sich vor und zurück, wie wenn sie mit dem Kopf nicken würden.

„Bist du etwa unfähig zu sehen, dass aus uns deine Liebe strahlt? Ja, diese Liebe, die du während des Backens im Gedenken an deine Familie und Freunde in deinem Herzen bewegt hast, ist in uns gespeichert. Aber du scheinst wirklich nur noch den gebackenen Teig, die Konfitüre und den Puderzucker zu sehen. Deine Gier überlagert die zarten Schwingungen der Liebe und zerstört sie. So driftest du noch tiefer in dein Elend.“

Nach einer kurzen Pause fuhr der Stern fort: „Hast du es etwa auch versäumt, bei deinem Freund die Liebe zu entdecken? Sahst du sie bei deiner Mutter oder schmerzt dich der Abschied von ihr so sehr, weil du immer nur ihre Hülle wahrgenommen hast? Weshalb verlorst ausgerechnet du deine Stelle und nicht jemand anderes? Gelang es dir möglicherweise nicht, etwas mehr als nur das Geld auf dem Konto zu sehen, wenn du an deinen Beruf dachtest? So schnell, wie wir in deinem Magen verschwinden können, so schnell verschwinden all die Hüllen in deinem Leben. Wenn du es versäumt hast, dich mit ihrem Inhalt zu verbinden, bleibt nur noch eine grosse Leere zurück, sobald sie weg sind. Uns macht es nichts aus, gegessen zu werden, denn wir sind gerne ein Anlass zu Glück und Freude. Zudem kannst du uns sowieso nicht wirklich essen, denn unsere wahre Identität ist Liebe. Lediglich unser Teigkörper wird von dir verzehrt. Wir aber verbinden uns wieder mit der grossen Liebe des All-Einen. Wer mit dieser Liebe verbunden ist, wird so auf wundersame Weise von uns genährt. Er wird deine Kekse mit besonderem Genuss verzehren.“

Betroffen starrte Julia den Spitzbuben-Stern an. Plötzlich erschütterte ein Schluchzen ihren Körper. Sie spürte die tiefe Wahrheit dessen, was eben gesagt worden war. Nie hatte sie sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, was in ihrem Leben wirklich wichtig war. Ihre tiefe Sehnsucht nach Erfüllung hatte sie mit Konsum und Oberflächlichkeit zu füllen versucht. Wie klar sah sie noch die enttäuschten Augen ihrer Mutter, als sie sich keine Zeit nehmen wollte, die bereits todkranke Frau öfter zu besuchen. Karriere war ihr wichtiger. Doch ihre Rechnung war nicht aufgegangen: sie hatte zu spät erkannt, dass sie bei der Arbeit nur ausgenützt worden war und nie wirkliche Chancen für einen Aufstieg bestanden hatten.

Und ihr Freund? Der hatte zu Hause auf sie warten müssen, wenn sie in ihrem Erfolgswahn wieder einmal Überstunden machte. Er hatte lange um sie gekämpft, ihr seine Liebe immer wieder beteuert. Doch sie war blind gewesen, hatte sich geschmeichelt gefühlt, umworben zu sein. Statt ihre Liebe zu bekommen, hatte ihr Freund ihren Stolz genährt bis er daran beinahe zerbrochen wäre. Erst als er ging, begann Julia zu erkennen, was sie angerichtet hatte.

Schonungslos musste die junge Frau ihrer Vergangenheit in die Augen blicken. Es schien ihr, als würde jeder einzelne Spitzbube sie anklagend betrachten. Weinend sank sie zu Boden, faltete die Hände und blickte flehend gegen den Himmel.

„O Gott“, schluchzte sie, „wenn es Dich gibt: bitte verzeih mir!“

In diesem Augenblick wurde es plötzlich ganz hell um sie herum. Eine Kraft schien sich im Raum auszudehnen, von der eine tiefe Ruhe ausging.

„Oh“, stammelte Julia, „es gibt Dich also wirklich?“

Das Licht wurde noch intensiver und es schien, als würde es die Frage auf diese Weise bejahen.

„Dann hatte Mutter also doch Recht, wenn sie uns Kinder davon zu überzeugen versuchte, Dich in unseren Herzen zu bewahren?“

Bei dieser Äusserung spürte sie eine tiefe Wärme in ihrer Brust. Und plötzlich war Julia auch klar, dass Weihnachten mehr bedeutete als Spitzbuben backen, gutes Essen, Tannenbaum, Glitter und Geschenke. Dieses Fest sollte uns immer daran erinnern, dass Gott bei uns ist, immerwährend, jeden Augenblick. In diesem Moment erlebte Julia ein tiefes seelisches Erdbeben. Sie wusste, dass sie nie mehr so würde leben können wie zuvor. Es gab nur noch etwas in ihrem Dasein, das sie wirklich interessierte: dieses göttliche Licht, das offensichtlich allen Kreaturen innewohnt. Voller Demut kniete Julia auf dem Boden im Bewusstsein, dass dieses Weihnachtsfest für sie eine Erleuchtung war.

Als sich die junge Frau wieder erhob, fiel ihr Blick auf die Gitter, auf welche sie die Spitzbuben gelegt hatte. Erstaunt stellte sie fest, dass die Plätzchen alle wieder dort lagen. Verwirrt rieb sich Julia die Augen. Hatte sie nur geträumt? Nein das konnte nicht sein, es hatte sich viel zu wirklich angefühlt. Und tatsächlich, als sie ihr Gewürzgestell betrachtete, sah sie feine Spuren von Puderzucker. Diese fanden sich auch an all den anderen Orten, an denen sich das Weihnachtsgebäck befunden hatte. Diese Spuren würde sie nicht so schnell wegwischen, damit sie sich immer wieder daran erinnern konnte, dass das Leben nur dann Sinn machte, wenn man sich auch wirklich mit ihm befasste. Und zu diesem Zweck musste man sich mit dem göttlichen Licht auseinandersetzen. Folglich wollte Julia herausfinden, wie sie dieses vermehrt in ihren Alltag einfliessen lassen konnte. Dazu gehörte zum Beispiel das Verschenken der Spitzbuben, damit sie mit der Energie der Liebe, die zum göttlichen Licht gehörte, die anderen Menschen erfreuen konnte.

Lächelnd dachte Julia: eigentlich wäre das die Idee von Weihnachten, nur hatte sie das bis jetzt nicht erkannt.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.