Die Wildlederschuhe

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Wenn man in den geräumigen Laden eintrat, nahm man sofort den Duft von Leder wahr. Dies war kein Wunder, denn überall reihten sich auf den Regalen Schuhe aneinander: grosse und kleine, glänzende und matte, elegante und rustikale für jeden Geschmack gab es etwas Passendes. Still standen die Schuhe da und warteten darauf, einen Besitzer zu erhalten. Einerseits fieberten sie alle auf diesen Augenblick, endlich das Regal verlassen und in die weite Welt reisen zu können, andererseits hatten sie aber auch ein wenig Angst. Sie wussten von älteren Artgenossen, welche bereits eine Weile im Dienst der Menschen gestanden hatten, dass so ein Schuhleben nicht immer einfach war. Da gab es Leute, die trampelten auf ihrer Fussbekleidung herum, andere schlurften die Sohlen schief. Es gab welche, die ihre Schuhe nicht pflegten und solche, die sie in eine dunkle Ecke stellten und nie benützten. Ja, es gab vielerlei Schuhschicksale, und die waren zum Teil nicht einfach zu tragen. Jedes der funkelnagelneuen Schuhpaare hoffte natürlich auf den idealen Besitzer, der seine Fussbekleidung regelmässig benützte, einen angenehmen Gang hatte und das Leder auch ordentlich pflegte.

Mitten auf einem der Regale stand ein Paar halbhoher, hellbrauner, gut gefütterter Wildleder schuhe. Sie befanden sich noch nicht lange im Laden, denn die Sommerschuhe waren erst gerade vor einigen Tagen weggeräumt worden. Schliesslich war es bereits Herbst, und die Kunden suchten nun etwas für die bald hereinbrechende Winterzeit. Die Wildlederschuhe waren recht ungeduldig. Wie langweilig es doch auf diesem Regal war! Nun, immerhin war dieser Standort besser als die finstere Schachtel, in der sie bis vor kurzem eingesperrt gewesen waren. Immer, wenn sich ein Kunde näherte, warteten die Schuhe darauf, endlich einmal über irgendwelche Füsse gezogen und anprobiert zu werden. Was würde dies wohl für ein Gefühl sein? War es wirklich so schlimm, wie manche ältere Schuhe es ihnen vorgejammert hatten? Fieberhaft erwarteten die Winterschuhe den ersehnten Augenblick.

Eines Tages war es dann soweit: Eine Frau betrat mit einem Mädchen den Laden. Die Verkäuferin begleitete die beiden vor das Regal, in dem die hellbraunen Schuhe standen. Nach einer kurzen Zeit fühlten sich diese aufgehoben und weggetragen. Bald standen sie mit anderen Schuhen vor einem Stuhl, und nicht lange danach zwängten sich Kinderfüsse in ihr Inneres. Kräftig wurden die Schuhbändel angezogen, dann erfolgten die ersten Schritte. Na ja, allzu bequem war das in der Tat nicht. Wenn man es nicht gewohnt war, schmerzten die Sohlen effektiv, ebenso die fest angezogenen Schuhbändel. Dafür gab es endlich Bewegung in das langweilige Dasein auf dem Regal. So waren die Wildlederschuhe nicht unglücklich, als sie bald darauf in eine Schachtel gepackt und weggetragen wurden. Nun begann also das lang ersehnte richtige Leben.

In ihrem neuen Zuhause wurden die Schuhe gut gepflegt, aber manchmal auch ganz schön strapaziert. Das Mädchen ging nicht zimperlich mit ihnen um. Es trat in Pfützen, rannte durch den grössten Dreck, stiess gegen Steine und stampfte manchmal wütend. All dies war recht unangenehm. Aber zum Glück gab es dazwischen immer wieder Ruhepausen, in denen sich die Schuhe von den ausgestandenen Strapazen erholen konnten. Dann stand das Paar oft in Gesellschaft anderer Schuhe an seinem Platz und gegenseitig erzählte man sich Erlebnisse. So vergingen langsam die Tage und Wochen. Die Winterschuhe gewöhnten sich an das raue Leben ausserhalb des Ladens. Sie merkten aber auch, dass ihr Äusseres unter all den Strapazen litt. Obschon sie sich nicht über ungenügende Pflege beklagen konnten, durchzogen schon erste Falten das vorher glatte Leder. Ausserdem schien es den Schuhen, dass das Leben nicht ganz so abenteuerlich war, wie sie es sich vorgestellt hatten. Ihre Herrin, das kleine Mädchen, erlebte nicht übermässig viel Spannendes und liess seine Schuhe manchmal stundenlang irgendwo in einem Abstellraum stehen. Nur einmal war etwas besonders Aufregendes geschehen: da hatten die Sohlen nämlich nicht mehr den schwarzen Asphalt unter sich gespürt, sondern etwas Weisses und Kaltes. Aber dieses pulvrige Element war nur im ersten Augenblick etwas Spannendes gewesen. Bald entpuppte es sich als etwas eher Unangenehmes, da es das Leder nass werden liess. So waren die Schuhe schliesslich froh, wenn sie möglichst viele Ruhepausen hatten, in denen sie vor sich hindösen konnten. Nein, das langersehnte Abenteuer des Lebens war wirklich nicht so erstrebenswert, wie es einmal geschienen hatte.

Einmal, zu einer Zeit, als die Schuhe meistens schon Feierabend hatten, zwängten sich die Kinderfüsse in ihr Inneres. Irgendetwas Besonderes schien heute los zu sein, denn die ganze Familie zog sich dicke Mäntel, Mützen sowie Handschuhe an und trat in die bitterkalte Winternacht hinaus. Brr, wie schön wäre es nun im warmen Haus! War das denn wirklich nötig, sich dieser elenden Kälte auszusetzen? Was hatte die Familie im Sinn, dass sie den Schuhen die sonst ruhige Zeit stehlen musste? Die Lederschuhe trösteten sich mit dem Gedanken, dass man bestimmt schon bald wieder heimkehren würde. Aber das schien die Familie nicht im Sinn zu haben. Immer weiter ging der Marsch durch die dunkle Nacht.

Bald erblickten die Schuhe eine ganze Menschenmenge und damit natürlich etliche Leidensgenossen, die sich ebenfalls nach Wärme sehnten. Viele der versammelten Leute trugen kleine Lichtlein in der Hand, und alle schienen sich auf etwas zu freuen. Je aufgeregter aber die Stimmung wurde, umso elender fühlten sich die Schuhe. Ihnen war ja so kalt und sie sehnten sich nach Ruhe. Die Menschen waren wirklich rücksichtslos, ihnen den wohlverdienten Frieden einfach zu zerstören!

Auf einmal merkten die Wildlederschuhe, dass sich viele ihrer Kameraden von der spannungsvollen Erwartungshaltung anstecken liessen, ja, dem Kommenden sogar entgegenfieberten. Da fühlten sich die hellbraunen Schuhe immer einsamer und trostloser. Waren sie denn die einzigen, die keine Lust auf Abenteuer hatten, welche ja doch nur Strapazen mit sich brachten?

Endlich kam etwas Bewegung in die Menschengruppe. Das half wenigstens gegen die grosse Kälte. Murrend und verbittert leisteten die Schuhe ihren Dienst. Nach kurzer Zeit schien die Menschenmenge auch schon an ihrem Ziel angekommen zu sein. Alle Leute standen nun um einen Baum, auf dem viele Lichtlein brannten. Bald durchbrachen Lieder die Stille der Nacht. Kinder spielten kleine Theaterszenen vor und manche Leute hielten Reden. Rundum war eine feierliche Stimmung zu spüren. Menschen und Schuhe vergassen die Kälte und schienen von einem tiefen Frieden erfüllt zu sein. Je mehr dies die hellbraunen Wildlederschuhe spürten, umso grösser wurde ihr eigener Jammer. Wie konnte man nur so fröhlich sein, wenn das Leben doch so elend war? Wie konnte man Frieden empfinden, wenn jeder Tag ein Kampf war? Waren denn alle verblendet von den Lichtlein auf dem Baum?

Nun begann das kleine Mädchen heftig zu stampfen und zu hüpfen. „Auch das noch,“ dachten die Schuhe erbittert. „Aber bitte, nur zu, das Leben ist sowieso eine einzige mühsame Plage.“

Plötzlich merkten die Schuhe, dass es in ihrem Innern langsam wärmer wurde. Offensichtlich vertrieb die Bewegung des Kindes die schlimmste Kälte. Oh, wie tat das gut! Die Wärme breitete sich langsam aus und durchdrang das ganze Innenleder. Dadurch wich allmählich die grosse Anspannung und machte einer tiefen Müdigkeit Platz, die auf den inneren Aufruhr folgte. Das Denken wurde immer träger und schliesslich war es einfach still.

Und dann geschah etwas Merkwürdiges: Es war, als würden im Inneren des Leders Lichter entzündet, welche einen wundersamen Frieden verströmten. Erstaunt blickten die Schuhe um sich herum, um eine Erklärung für dieses Mysterium zu finden. Doch alles war noch gleich wie vorher. Die Lichtlein brannten noch unverändert auf dem Baum. Die Menschen sangen gerade ein Lied und überall war die gleiche Freude zu beobachten, die schon seit einer Weile alle Augen glänzen liess. Diese Lichter und das Gefühl von Friede mussten also von innen kommen. Aber wie? Erst vor kurzem hatten die Schuhe doch noch ganz verbittert mit ihrem Schicksal gehadert. Die Wärme in ihrem Innern hatte dann lediglich bewirkt, dass sich eine grosse Müdigkeit ausbreitete. Diese hatte dann allerdings alle Gedanken ausgelöscht. Ja, und in dieser Leere waren die Lichter erschienen und das herrliche Gefühl des Friedens entstanden. War es also möglich, dass sie, die Wildlederschuhe, selber die Quelle der wundersamen Erscheinung waren?

Als die Schuhe wieder um sich blickten, schien auch die ganze Umgebung verwandelt zu sein. Die Lichter auf dem Baum sowie die Augen der Menschen leuchteten viel intensiver. Die grosse Freude, die alle ausstrahlten, erfasste nun mit Leichtigkeit das Herz der Schuhe. Und da erkannten diese plötzlich: Nichts auf Erden vermag Frieden zu vermitteln, wenn das eigene Herz hart und verstockt ist. Nur wenn dieses sich öffnet sind die Schönheiten des Lebens für die Seele zugänglich. Erst dann wird es möglich, zarte und wohltuende Gefühle zu erfahren und sie ins Leben fliessen zu lassen. Damit ist dieses keine Plage mehr, sondern ein friedvolles Dasein.

Was für ein wundervolles Geheimnis hatten die Schuhe doch an diesem Abend erfahren! Sie wollten es nie mehr vergessen und allen, die ihnen zuhörten, davon erzählen. Dieser besondere Abend der Lichter und Freuden sollte das einstmals so trübe Schuhleben verwandeln, und zwar in ein Leben des Friedens, denn das war nun klar: Nur die eigenen bitteren Gedanken mussten zum Schweigen gebracht werden, um das Wunder der Lebensfreude zu erfahren. War das nicht ein kleiner Preis für dieses riesige Geschenk?

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.