Engel auf Erden

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Jauchzend tanzten die kleinen Engel im Himmel umher. Sie konnten sich vor Freude kaum fassen. Endlich wurde der grosse Traum wahr: sie durften auf die Erde gehen. Wie lange hatten sie schon darum gebeten, bis jetzt ohne Erfolg. Doch nun hatte Erzengel Gabriel persönlich grünes Licht gegeben. Die Schulung der kleinen Engelchen war nun so weit fortgeschritten, dass praktische Erfahrung Sinn machte. Sie mussten zwar noch viel lernen, aber das würde besser gehen, wenn sie ein bisschen Erdenerfahrung hätten. Der nun folgende Unterricht war nur noch auf das bevorstehende Ereignis ausgerichtet. Die Aufregung in der Schulstube war entsprechend gross, das Stillsitzen für die Engelchen schwierig. Zum Glück wussten sie noch nicht, was sie alles erwartete, sonst wären sie vielleicht ein bisschen aufmerksamer und ernsthafter hinter die Vorbereitungen gegangen. Für sie war alles noch ein grosses Spiel.

Als endlich der herbeigesehnte Tag angebrochen war, wurden die kleinen Engel alle noch einmal zusammengerufen. Das Wichtigste wurde ihnen ein letztes Mal zusammengefasst. Vor allem müssten sie sich grosse Mühe geben, ihre Energien gesammelt zu halten, weil sie sonst Verwirrung stiften könnten. Welches Ausmass diese Verwirrung annehmen könnte, erahnten allerdings nicht einmal die erfahrenen Engel, denn es war schon eine ganze Weile her, seit eine Klasse kleiner Engelchen ihre erste Erdenerfahrung machte.

In Gruppen traten schliesslich die kleinen geflügelten Wesen ihren Flug auf die Erde an. Alle hatten einen klaren Zielort und verschiedene Aufgaben. Daneben gab es aber auch genügend Raum, einfach ein bisschen zu beobachten und Erfahrungen zu sammeln. Mit gemischten Gefühlen schauten ihnen die älteren Engel hinterher und hofften, dass alles gut gehen würde. Es war immer wieder von neuem eine Herausforderung, eine Gruppe der kleinen Engelchen auf ihre spätere Aufgabe vorzubereiten. Und wie es bei der Erziehung halt so ist, man kann nie alles perfekt machen.

Bald trafen die ersten Engelchen auf der Erde ein. Für die Menschen waren sie natürlich unsichtbar, nur sehr hellsichtige Wesen konnten ihre Präsenz spüren. Neugierig schauten sich die geflügelten Himmelsboten um. Alles war spannend, alles faszinierte sie. Stundenlang konnten sie einfach in der Ecke eines Zimmers in einem Haus sitzen und schauen, was hier alles passierte. Wie waren die Menschen doch komische Geschöpfe! Die Engelchen konnten gar nicht begreifen, dass sie so wenig aufeinander eingingen. Es schien, als würden sie in der Tat nicht wahrnehmen, was die Leute rund um sie wirklich dachten und spürten. Die Engel sahen dies natürlich sehr genau und konnten nur staunen, wie unlogisch die Erdenkinder miteinander umgingen. Weil es ihr Auftrag war, sich alles gut anzusehen und alles eingehend zu studieren, versuchten sie, sich viele Situationen zu merken. Das war nicht einfach und das Leben auf der Erde mit ihren schweren Energien machte den Engeln immer mehr zu schaffen. So wurden sie müde und es gelang ihnen immer weniger, ihre eigenen Energien schön gesammelt zu halten.

Am dritten Tag nach ihrer Ankunft machte sich auf der Erde plötzlich eine Unruhe bemerkbar. Überall kam es zu komischen Problemen, welche die Engel nicht verstanden. Noch weniger verstanden sie, dass im Grunde genommen sie selbst die Ursache der Probleme waren, die sich von Tag zu Tag mehr zuspitzten. Was war geschehen?

In den letzten Jahren hatten die Menschen immer kompliziertere technische Wunderdinge entwickelt, die mittels Funksignalen funktionierten. Das ganze Gefüge war hochkomplex und auch sensibel. Je mehr den Engeln die Energien aus dem Ruder liefen, umso mehr begannen diese plötzlich verschiedene Signale zu stören. Was zuerst nur vereinzelt auftrat, breitete sich wie ein aggressiver Virus in einem grossen Tempo rund um die ganze Erde aus: Geräte sendeten oder empfingen falsche Signale, so dass sie unbrauchbar wurden. Als die Menschen merkten, dass die Störungen nicht nur einzelne Geräte betrafen, sondern grossflächig bestanden, vermuteten sie kriegerische Attacken einer anderen Macht. Sofort wollten sie ihre Armeen aktivieren, doch die Logistik, welche dafür hätte eingesetzt werden müssen, funktionierte auch nicht. Mit Angst und Schrecken suchten sie Verbindung mit dem vermeintlichen Feind aufzunehmen, doch Telefonund Funkverbindungen versagten ihre Dienste. Schlussendlich reisten die obersten Herrscher per Helikopter das Flugsystem der normalen Flugzeuge war natürlich auch zusammengebrochen in benachbarte Länder, um sich mit den entsprechenden Staatsoberhäuptern zu besprechen. Dabei wurde bald klar, dass alle Länder unter den gleichen Problemen litten.

Während die Regierungen versuchten, einen befürchteten Krieg abzuwenden, waren die Menschen in den Ländern bemüht, ihren Alltag aufrecht zu erhalten. Doch wie sollte das funktionieren? Informationen über Radio, Fernsehen, Telefon und andere Geräte gingen kaum noch. Man musste Menschen, mit denen man etwas besprechen wollte, persönlich aufsuchen. In den Läden konnten die Waren nicht mehr bestellt werden, womit die Kunden bald vor leeren Regalen standen. So mussten Gruppen gebildet werden, die direkt die Verteilzentralen aufsuchten, um das Allernotwendigste zu holen. Doch dort gab man ihnen sehr ungern etwas, denn die Logistik funktionierte nicht, womit keine Kontrolle über die Lagerbestände aufrechterhalten werden konnte. Es drohte, alles in ein völliges Chaos abzugleiten.

In dieser schlimmen Situation begannen die Menschen ganz allmählich, sich mehr und mehr zusammenzuschliessen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die oft völlig unkonventionell waren. Einzelne Leute hatten kreative Ideen, welche dazu führten, dass vielen geholfen werden konnte. Dabei arbeiteten plötzlich Personen zusammen, die sich noch gar nicht wirklich kannten; man nahm Kontakt mit anderen auf, denen man früher wohl einfach aus dem Weg gegangen wäre. Eine grosse Dynamik entstand und erlaubte den Menschen mehr und mehr, mit dem Notwendigsten versorgt zu werden.

Während die Erdenkinder versuchten, dem grossen Chaos beizukommen, beobachteten die grossen Engel mit Entsetzen, was die kleinen Engelchen anrichteten. Sie wollten schon eine Notfallübung starten und die unerfahrenen Schüler schnellstens in den Himmel zurückholen, als sie plötzlich merkten, dass hier etwas geschah, das nicht nur schlecht war. Schon lange hatten sie mit grossen Sorgen auf den wachsenden Egoismus der Menschen herabgesehen und sich gefragt, wie lange es noch gehen würde, bis die Erdenbürger ihre Welt völlig zerstört hatten. Nun bemerkten sie, dass innert kürzester Zeit in den Köpfen der Menschen eine Bewegung entstand, die unter anderen Umständen unmöglich gewesen wäre. Niemand konnte es sich mehr leisten, in seinen vier Wänden zu bleiben und sich von der Welt abzukapseln. Jeder musste hinaustreten und schauen, wie er zu seiner Nahrung kam. In den Fabriken lief grösstenteils nichts mehr, weil vielfach zu wenig oder gar kein Strom mehr floss. Dennoch versuchten die Menschen, die notwendigsten Dinge irgendwie herzustellen. Das ging aber nur, wenn sie neue Ideen hatten und sie gemeinsam umsetzten. Damit entwickelte sich plötzlich ein Geben und Nehmen, das vorher vom Egoismus erstickt worden war. Natürlich konnte dieser Zustand nicht beliebig verlängert werden, denn die Menschen gerieten auch in unschöne Notsituationen. Doch die Erzengel entschlossen sich, das Programm der kleinen Engelchen normal zu Ende laufen zu lassen, was ohnehin bald der Fall war. Dann mussten die kleinen Wesen in der Tat noch kräftig lernen, ihre Energien gesammelt zu halten.

In ihrer Unschuld realisierten die Engelchen auf der Erde nicht, was sie anrichteten und weshalb die Menschen so aufgeregt waren. Sie erledigten brav ihre Aufgaben und machten sich am vereinbarten Tag widerstrebend auf den Weg zurück zum Himmel. Auch wenn es anstrengend gewesen war, hatte es sich gelohnt. Der Einblick in die Menschenseele war sehr spannend gewesen und sie freuten sich schon sehr auf den Tag, an dem sie als grössere Engel Aufgaben bekommen sollten, durch die sie den Menschen in ihrem Alltag und in ihren Nöten beistehen konnten. So komisch und unbegreiflich diese Lebewesen manchmal waren, so lieb hatten sie die Engelchen gewonnen, denn im Grunde genommen waren es doch alles grosse Kinder, die vergessen hatten, wie sehr sie doch eigentlich den Engeln gleichen würden, wenn sie ihre wahre Natur lebten.

Sobald die Engelchen aus der Erdatmosphäre verschwunden waren, begannen die Geräte der Menschen wieder zu funktionieren. Man hätte meinen können, dass nun schnell wieder der normale Alltag eintreten würde. Doch dem war nicht so. Die Menschen hatten eine Erfahrung gemacht, die ihnen plötzlich ein Stück Menschlichkeit zurückgegeben hatte. Vielen waren die Augen aufgegangen und sie begannen nachzudenken. Begünstigt wurde dieser Prozess noch dadurch, dass Weihnachten vor der Tür stand. Zu dieser Jahreszeit waren die Menschen ohnehin besinnlicher.

So kam es, dass viele erkannten, dass Weihnachten vielleicht gar kein veraltetes Märchen war. Immerhin wurde die Geburt von Jesus Christus gefeiert, und dies mit gutem Grund: dieser grosse Weise hatte Zeit seines Lebens versucht, den Menschen zu zeigen, wie sie Frieden und Liebe entwickeln konnten. Nach dem eben Erlebten verstanden etliche, was Jesus sie mit viel Geduld hatte lehren wollen. Nun hatten sie in ihren eigenen Herzen gespürt, wie gut es sich anfühlte, mit anderen Leuten zusammen Lösungen zu finden und sich gegenseitig zu helfen. Man war zu grossen Gemeinschaften zusammengewachsen. Unterschiede in Herkunft, beruflicher Stellung und anderen Bereichen waren plötzlich bedeutungslos geworden. Es waren einfach alles Menschen mit ihren Bedürfnissen nach Essen, einem sicheren Dach über dem Kopf und lieben Personen um sich herum gewesen.

So wurde diese Weihnacht für viel zu einer wirklichen Weihnacht: Ein inneres Licht hatte sich entzündet. Man konnte es Christuslicht nennen oder auch Seelenlicht. Dieses schwebte nun als Leitstern über ihrem Leben.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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