Bild vom 19.1.2019

Ich werde folgendes Erlebnis nie vergessen:

Als ich frisch zu studieren begann, war ich noch sehr unsicher, ob ich den Anforderungen genügen würde. Bei vielen Vorlesungen bekamen wir kein Skript, sondern mussten selber Notizen machen. Diese waren dann die Grundlage für spätere Prüfungsvorbereitungen. Um mich abzusichern, glich ich einmal meine Notizen mit denjenigen eines Mitstudenten ab und war sehr erstaunt, was er teilweise den Vorlesungen entnommen hatte. Seine Inhalte entsprachen nicht den meinen. Das verunsicherte mich natürlich. Aber schlussendlich blieb ich meiner Version treu. Nachdem ich bei den Prüfungen sehr gut abschnitt, wusste ich, dass meine Verarbeitung des dargebotenen Stoffes gut gewesen war. Gleichzeitig war ich erstaunt, wie unterschiedlich Fakten und Geschehnisse wahrgenommen und interpretiert werden können. Dass dem so ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Im Prinzip kann ich nie genau wissen, wie ein Mitmensch etwas wahrnimmt und interpretiert. Ich muss sogar davon ausgehen, dass jeder seine ganz eigene Welt zusammengebaut hat und aufgrund seiner verschiedenen Erfahrungen jedes Ereignis auf seine ganz eigene Art und Weise in sein Weltbild einordnet. Nur wenn ich eine Person besser kenne, kann ich nachvollziehen, warum sie die Welt so wahrnimmt, wie sie sie eben wahrnimmt.

Was will ich nun damit sagen?

Wir alle haben ein Weltbild aufgebaut. Dieser Prozess beginnt bereits mit den Erfahrungen des Babies im Mutterleib. Dieses Weltbild bildet die Grundlage dafür, dass wir uns im Alltag orientieren, die Vorgänge rund um uns verstehen und somit handlungsfähig sein können. Manchmal ist unser Weltbild aber auch fehlerhaft. Dann müssen wir es korrigieren. Das können kleine, alltägliche Sachen sein wie z.B. der Irrtum, Schoggimilch stamme von braunen Kühen (ist kein Witz: es kam bei Erhebungen vor, dass Stadtkinder dies glaubten). Es können aber auch grössere Fehler sein, die uns aber gar nicht bewusst sind (früher glaubten die Menschen, die Erde sei eine Scheibe).

Wir alle leben im Irrtum, dass unser Leben als diese Person, die wir gerade sind, eine absolute Wirklichkeit ist. Aber dem ist nicht so, denn diese Person ist nur ein vorübergehendes Phänomen, also kann sie keine absolute Wirklichkeit sein. Das, was wirklich ist, ist der Teil in uns, der einfach zur Kenntnis nimmt, was im Augenblick alles passiert. Es ist sozusagen der Zeuge von allem, der neutrale Beobachter. Um der Wirklichkeit näher zu kommen, müssen wir folglich ein bisschen Distanz zur Person und ihrem Erleben bekommen. Das ist aber schwierig: spätestens wenn wir uns als Person bedroht fühlen, merken wir, wie sehr wir uns mit unserer Körperlichkeit identifizieren und dieses „vorübergehende Phänomen“ mit aller Kraft verteidigen. Auch bei vielen anderen Gelegenheiten können wir erleben, dass es uns wichtig ist, wie unsere Person dasteht, wie sie wirkt, wie andere sie beurteilen etc. Weil uns so wichtig ist, dass dieser Person viel Wert beigemessen wird, dass sie gut ankommt, dass ihr nichts passiert etc. machen wir alles, um diese Ziele auch zu erreichen.

Und nun kommen wir zu unserem Bild: es ist farbig und die verschiedenen Farben sind rund um ein Zentrum angeordnet. Man kann sich leicht vorstellen, dass sich die Farben mehr oder weniger schnell um das Zentrum zu drehen beginnen. Obschon das Bild an sich simpel ist, können diese Bewegung sowie die Farbabstufungen bewirken, dass das Grundmuster nicht mehr erkannt wird. Im übertragenen Sinn heisst das: es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir uns durch die Farbigkeit und Bewegung des alltäglichen Lebens sozusagen hypnotisieren lassen. Dadurch sind wir unfähig, das Grundmuster des Gesamten noch wahrzunehmen.

Somit stehen wir vor folgendem Phänomen: in dieser turbulenten Welt der an sich immer wiederkehrenden gleichen Farben (sprich materielle Welt) herrschen bestimmte Gesetze, die wir zu verstehen gelernt haben. Aber irgendwie scheint das Leben nicht immer diesen Gesetzen zu folgen. Oft macht uns das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Hier müssten wir uns eingestehen, dass wir offensichtlich ein Weltbild haben, das gewisse Mängel aufweist, also ein fehlerhaftes Weltbild. Wir scheinen gewisse Zusammenhänge nicht zu verstehen. Möglicherweise glauben wir im übertragenen Sinn effektiv daran, dass Schoggimilch von braunen Kühen stammt. Es scheint doch ganz logisch zu sein,    oder etwa nicht?

Falls du es ganz ok findest, dass du solche Dinge glaubst, brauchst du nicht mehr weiter zu lesen. Wenn du meinst, dass es doch ein bisschen peinlich ist zu erwarten, dass trinkfertige Schoggimilch aus dem Euter brauner Kühe fliesst, dann lies weiter. Anstatt dich zu schämen, könntest du nämlich etwas unternehmen.

Ich schlage vor, das Leben (noch intensiver) in einer konstruktiveren Form zu nutzen. So erachte ich es als wenig sinnvoll, Zielen nachzujagen wie nach mehr Liebe zu trachten, dir durch berufliche Erfolge Ansehen zu verschaffen, das letzte Wort bzw. Recht haben zu müssen, die andere Person ständig an ihre Schuld zu erinnern und so die eigene Stellung zu verbessern etc. Vielmehr würde ich das Leben (noch mehr) als Schulstube betrachten. Die Ereignisse des Alltags sind nämlich weniger dafür gedacht, unsere armselige Person im Lebenskampf zu schulen. Eher sollten wir alle Geschehnisse als Studienobjekt auffassen und uns überlegen, welche Kräfte im Hintergrund wirken. Das bedeutet, dass wir herausfinden müssen, warum bestimmte Ereignisse überhaupt auftreten bzw. wegbleiben. Wenn wir diese Mechanismen kennen, können wir sie nämlich nutzen. Ich nenne diese Zusammenhänge die kosmischen Gesetze. Diese können wir nur fassen, wenn wir uns aus dem täglichen Weltengetümmel immer und immer wieder herausnehmen, in die innere Stille gehen und unser Leben studieren. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht gleichzeitig auch an der Farbigkeit des Lebens Freude haben dürfen. Es gibt ein Sowohl-als-Auch. Diese Schöpfung ist wunderschön und wir sollen Freude an ihr haben. Wir sollten uns aber nicht davon hypnotisieren lassen und dabei vergessen, dass dahinter ein riesengrosser Apparat steckt, den es zu erforschen gilt.

Übrigens noch eine interessante Erfahrung, der ich immer wieder begegne: wenn du das Leben als Kriegsschauplatz verstehst, auf dem du dauernd um deine Rechte kämpfen, um Liebe werben, deine Haut verteidigen musst etc., wirst du ständig in entsprechende Wirren verstrickt sein und leiden. Erhebst du dein Denken auf eine andere Stufe und beginnst zu erforschen, wie du ein grösseres Verständnis für alles erwerben kannst (vor allem ein Verständnis für dein eigenes So-Sein, wie du bist), wirst du plötzlich ganz neue Wege für dein Leben finden, abseits dieser Schlachtfelder. Wirren lösen sich häufig ganz von alleine, sobald du ihre Gründe erkennst. Das Leben ist nicht unbedingt einfacher, aber du befindest dich nicht mehr in der Zone, in der es heisst „Aug um Auge, Zahn um Zahn“. So ist es eindeutig komfortabler. Und das Schöne dabei: das, wofür du früher immer gekämpft hast, wird dir als Nebenprodukt oft quasi geschenkt.

Nun zu deiner praktischen Arbeit:

Betrachte das Bild: die Welt kann so ruhig werden wie dir das Bild erscheint (eine geordnete Sammlung von Farben um eine Mitte, die klar hervorleuchtet). Suche diesen Ort in dir, immer und immer wieder. Lass dein inneres Tempo anhalten, so oft wie möglich, bis es dir zur Gewohnheit wird. Jeden Tag kannst du neu beginnen, dies zu üben. Hör nie damit auf, es lohnt sich.